Bijan Djir-Sarai

Boris-Nemtsow-Preis 2019 geht an Anastasia Shevchenko.

Bijan Djir-Sarai während der Laudatio auf die Preisträgerin

Sehr geehrter Damen und Herren, liebe Finalistinnen und Finalisten des Boris-Nemtsov-Preises 2019,

Im Jahr 2019 wird der Boris-Nemtsov-Preis bereits zum vierten Mal verliehen. Seit vier Jahren werden Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Blogger und andere mutige Kämpferinnen und Kämpfer dafür belohnt, dass sie sich für ein freiheitliches und demokratisches Russland einsetzen.

Zhanna Nemtsova, die Tochter des Namensgebers dieses Preises rief diese Verleihung ins Leben, nachdem sie auch die „Boris Nemtsov Stiftung für die Freiheit“ gründete.

Über die unabhängige russische Zeitung „Nowaja Gazeta“ haben Leserinnen und Leser jedes Jahr die Möglichkeit, unter 30 Nominierten fünf Finalisten auszuwählen. Anschließend entscheidet das Kuratorium der Boris-Nemtsov-Stiftung nach intensiven Überlegungen über den Preisträger.

Anastasia Shevchenko reiht sich als Preisträgerin in eine Reihe von Journalisten, Oppositionspolitiker und Aktivisten, die alle eine Sache gemeinsam haben: Die Hoffnung, dass sie als Botschafterinnen und Botschafter für Freiheit und Demokratie in Russland gehört und vor allem auch beachtet und respektiert werden.

Genau diese Hoffnung beflügelte auch Boris Nemtsov selbst. Zwischen 1997 und 1998 war er unter Boris Jelzin stellvertretender Ministerpräsident der Russischen Föderation. 2008 wurde Nemtsov nach der Gründung der Vereinigten demokratischen Bewegung „Solidarnost“ zu einem der bekanntesten Oppositionspolitiker Russlands.

Vier Jahre später, im Jahr 2012 wurde er bei dem Zusammenschluss liberaler Organisationen zur „Republikanischen Partei Russlands – Partei der Volksfreiheit“ zu einem der drei Vorsitzenden. Seine Arbeit für eine demokratische Veränderung in Russland konnte Nemtsov nicht weiter führen, denn am 27.02.2015 wurde er auf der Großen Moskwa-Brücke in Sichtweite des Kremls erschossen. Bis heute ist sein Mord nicht aufgeklärt.

Menschen wie Anastasia Shevchenko, Jurij Dmitriev, Alexej Navalny, Mikhail Svetov und Oyub Titiev lassen sich von dieser grausamen Vorgehensweise nicht einschüchtern.

Welche Etappen und Zwischenstationen im Leben haben aber nun Anastasia Shevchenko dabei geholfen, heute mit dem Boris-Nemtsov-Preis ausgezeichnet zu werden? Ich möchte mit Ihnen eine kleine Reise durch einige ihrer wichtigsten Momente und Verdienste unternehmen.

Anastasia Shevchenko ist die Koordinatorin der Bewegung „Offenes Russland“ in Rostow am Don in Südrussland. Einst von Mikhail Chodorkowsky gegründet, aber autonom und demokratisch strukturiert, setzt sich die Bewegung landesweit für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und eine Rechenschaftspflicht der russischen Regierung ein.

Wegen Zitat „der Ausübung einer Tätigkeit auf Russischem Staatsgebiet für eine ausländische oder internationale Nichtregierungsorganisation, deren Aktivitäten als unerwünscht auf dem russischen Staatsgebiet eingestuft wurde“ Zitat Ende wurde sie auf Grundlage des Paragrafen 284 Absatz 1 des russischen Strafgesetzbuches angeklagt und am 21. Januar 2019 festgenommen.

Hintergrund hierfür ist, dass eine gleichnamige Organisation von Herrn Chodorkowsky mit Sitz in London zur „unerwünschten Organisation“ erklärt wurde.

Am 23. Januar 2019 wies das Leninski-Gericht in Rostow am Don einen Antrag auf Freilassung gegen Bewährung von Anastasia Shevchenko ab und stellte sie bis zu ihrem Verfahren unter Hausarrest. Menschenrechtsorganisationen kritisieren den Verstoß der russischen Behörden gegen Verpflichtungen aus internationalen Menschenrechtsnormen, als auch gegen die russische Verfassung, welche die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit zumindest auf dem Papier schützt.

Während ihres Hausarrests verstarb ihre 17-jährige behinderte Tochter. Shevchenko wurde ein Besuch über Wochen verwehrt und erst am Morgen des Todestages durfte sie zu ihrer Tochter.

Trotz großer persönlicher Schwierigkeiten und der aktuellen Situation in Russland setzt sich Anastasia Shevchenko beispielhaft und unbeirrt für ein freiheitliches und demokratisches Russland ein. Das soll heute mit der Verleihung des Boris-Nemtsov-Preises gewürdigt werden.

Ein wichtiger Grundpfeiler und eine nicht wegzudenkende Stütze ist ihre Familie, die ihren Einsatz auch in schwierigen Zeiten mitträgt. Dies zeigt sich auch heute, denn Anastasia Shevchenko wird von ihrer jungen Tochter Vlada auf dieser Preisverleihung vertreten. Liebe Vlada: Auch dir ein herzliches Willkommen bei dieser Preisverleihung!

Anastasia Shevchenko hat es geschafft, durch ihr Engagement und ihren spezifischen Fall unzählige Unterstützungsschreiben zu sammeln, friedliche Mahnwachen und auch Demonstrationen auszulösen. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass sie nicht alleine ist, sondern viele Gleichgesinnte in der russischen Gesellschaft hat.

Ich habe viel Respekt vor dem außergewöhnlichen Durchhaltevermögen und der charakterlichen Festigkeit von Anastasia Shevchenko, die trotz des unglaublichen privaten Leidens ihr Ziel weiter im Auge behält und weiter dafür kämpft.

Anastasia Shevchenko ist ein Beispiel dafür, dass es im heutigen Russland weiter eine Vielzahl an Menschen gibt, die für ihre eignen Rechte, aber auch für die Rechte anderer mit friedlichen Mitteln eintreten. Sie ist ein Hoffnungsschimmer dafür, dass man auch im heutigen Russland eine positive Veränderung herbeiführen kann, wenn man mit friedlichen Mitteln für seine Grundrechte einsteht.

Die heutige Verleihung des Boris-Nemtsov-Preises darf deshalb nicht nur eine Würdigung des Einsatzes für Freiheit und Demokratie sein. Ich hoffe zutiefst, dass dieser Preis auch hilft, dem konkreten Unrecht, dass gegen Anastasia Shevchenko besteht eine Öffentlichkeit zu geben und auf den Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Russland aufmerksam zu machen.

Meine Gedanken sind heute bei Anastasia Shevchenko. Die Hoffnung, dass der verhängte Hausarrest schnellstmöglich aufgehoben wird und das gegen sie eingeleitete strafrechtliche Verfahren eingestellt wird darf nicht aufgegeben werden. Das wäre in diesen unruhigen Zeiten ein falsches Signal.

Der Einsatz für Menschenrechte und Demokratie in Russland hat viele Namen und Gesichter. Dazu zählen auch die übrigen vier Finalisten des Boris-Nemtsov-Preises: Jurji Dmitriev, Alexej Navalny, Mikhail Svetov und Oyub Titiev.

Jurji Dmitriev ist Menschenrechtsaktivist und Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Er war die wichtigste Kraft, der Opfer der Repression der Stalin-Zeit in seiner Heimat Karelien zu gedenken. Zurzeit läuft gegen ihn ein Gerichtsverfahren, welches viele Beobachter als politisch motiviert einschätzen. Mittlerweile fordert auch die Europäische Union die Freilassung Dmitrievs.

Wenn die friedliche Demonstration in Russland ein Gesicht hätte, dann wäre es das von Alexej Navalny. Er gilt als einer der bekanntesten Oppositionspolitiker Russlands. Nach dem Vorwurf, er habe illegale Demonstrationen gegen die russische Regierung organisiert, verbrachte er 2017 mehrere Monate in Haft. Er ist Gründer der sogenannten „Anti-Korruptions-Stiftung“ und war im Jahr 2018 auch als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen nominiert. Die Zentrale Wahlkampfkommission hinderte ihn damals mit allen Mitteln an seiner Kandidatur.

Bereits 2014 wurde Alexej Navalny für zehn Monate unter Hausarrest gestellt. Im April diesen Jahres urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass der damalige Hausarrest gegen Navalnys Menschenrechte verstoßen habe, politisch motiviert gewesen sei und dem Ziel gedient habe, den politischen Pluralismus in Russland zu unterdrücken.

Im heutigen Zeitalter der Digitalisierung ist der Kampf für ein freies Internet nicht mehr weg zu denken. Mikhail Svetov ist Aktivist, Blogger und Mitglied der „Russian Libertarian Party“. Er kämpft gegen die wiederholten Versuche der russischen Regierung, das Internet durch Gesetze zu kontrollieren und Inhalte zu zensieren. In den vergangenen Monaten hat er große Straßenproteste mit tausenden von Teilnehmern in Moskau organisiert.

Oyub Titiev leitete nach der Ermordung seiner Vorgängerin Natalya Estemirova seit 2009 das „Memorial Menschenrechtszentrum“ in Tschetschenien. Er berichtete dort über Folter, Mord, kollektive Strafmaßnahmen und Entführungen, bevor er im Jahr 2018 festgenommen wurde. Auch seine Festnahme und das Verfahren werden von Amnesty International als „politisch motivierter Versuch, Menschenrechtsverteidiger in Russland einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen“ bewertet. Nun erreichte uns Anfang der Woche die hocherfreuliche Nachricht, dass er wohl zeitnah auf Bewährung frei gelassen wird. Ich wünsche ihm das Allerbeste!

Hausarrest, falsche Anschuldigungen und Haftstrafen. Das sind die traurigen gemeinsamen Nenner aller Nominierten und der Preisträgerin. Allen Nominierten danke ich ebenfalls für Ihren unermüdlichen Einsatz und wünsche Ihnen für Ihre Zukunft viel Erfolg und vor allem auch Durchhaltevermögen!

Die Geschichten der Nominierten reihen sich ein in aktuelle politische Entwicklungen in Russland, die vor allem auch aus liberaler Sicht dringend politisch eingeschätzt werden müssen.

In Russland breitet sich zunehmend ein immer autoritärer werdendes Herrschaftssystem aus. Demokratische und rechtsstaatliche Institutionen sind in der Verfassung verankert, sie werden jedoch immer wieder durch die bestehenden Machtstrukturen ausgehöhlt. Der Wunsch nach Veränderung und die Zuwendung zu liberalem Gedankengut sind Komponenten, die vor allem die junge aufstrebende Mittelklasse bewegen.

Während Russland die USA, die EU und alle westlichen Demokratien und Werte ablehnt, strebt diese junge Mittelklasse nach Veränderungen im bestehenden System.

Anastasia Shevchenko, Jurij Dmitriev, Alexej Navalny, Mikhail Svetov und Oyub Titiev. Sie alle sind genau wie Boris Nemtsov Verfechter von Grund- und Menschenrechten in Russland. Sie sind Beispiele dafür, welche Veränderungen genau im russischen System notwendig sind.

Boris Nemtsov sagte einmal: „ Mutige, furchtlose Leidenschaftliche, die bereit sind für den Wert der Freiheit sowohl ihr Wohlbefinden als auch jeden Komfort aufzugeben, kämpfen für eure und ihre eigene Freiheit“.

Ich danke abschließend Anastasia Shevchenko noch einmal für Ihren unglaublichen und unermüdlichen Einsatz für Recht und Gerechtigkeit in ihrer Heimat Russland. Möge der Mut, die Willenskraft und vor allem die Hoffnung für eine bessere Zukunft Sie immer weiter treiben und motivieren.

Vielen Dank. Spasibo.